Die Mär vom kaputtfragmentierten Android

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(© 2014 CC: Flickr/nickmickolas )

In den vergangenen Tagen erreichten uns zwei Meldungen, die im Kern den weiterhin unaufhaltsamen Aufstieg des Android OS dokumentieren: erstmalig mehr mobiler Webtraffic von Android-Geräten als von solchen mit  Apples iOS generiert. Doch der Erfolg hat einen Haken, sagen Kritiker: Fragmentierung und Android-Derivate, sogenannte Forks, sind der Preis, mit dem diese Vorherrschaft erkauft wird. Wie dramatisch sind die beiden "F's" für das OS und seine Nutzer aber wirklich?

Kurze Begriffserklärung vorweg: Unter Fragmentierung versteht man im Android-Kontext die Tatsache, dass die wenigsten Geräte mit der aktuellen Version des OS' — dieser Tage wäre das Android 4.4.4 KitKat — laufen, sondern je nach Hersteller, Alter und verbauter Hardware mit derzeit fünf verschiedenen Hauptversionen: Von 2.2 Froyo über 2.3 Gingerbread, 4.0 Ice Cream Sandwich und 4.1, 4.2 und 4.3 Jelly Bean bis zu 4.4 KitKat. Auch die Hardware-Fragmentierung, sprich die zahlreichen unterschiedlichen verbauten Komponenten wie Display, Prozessor und Speichergröße spielen dabei eine Rolle.

Ein Fork (zu deutsch: Gabel, in diesem Fall eher als Zweig zu verstehen) ist eine Android-Version, die auf dem quelloffenen AOSP (Android Open Source Project) basiert, aber von einem Drittentwickler angepasst wurde. Forks sind beispielsweise auf AOSP basierende, erweiterte Custom Roms wie CyanogenMod, aber auch und vor allem von Herstellern genutzte Varianten von Android, wie zum Beispiel das OS, das Amazon auf seinen Kindle-Geräten installiert. Die Besonderheit der AOSP-Forks ist, dass sie nicht von Google sanktioniert sind und deswegen ohne die Google Mobile Services, sprich Zugang zum Play Store, Google Apps und Play Services auskommen. Vor allem in Fernost sind solche Forks weit verbreitet, hier steht beispielhaft MIUI.

Woher kommt die Fragmentierung?

Seit Android an Verbreitung gewonnen hat und Google sein OS mit immer neueren Versionen aktualisiert, besteht das Problem der Fragmentierung: Nicht alle Geräte haben stets die aktuellste Betriebssystem-Variante installiert. Das ist zwar beispielsweise auch bei iOS in Ansätzen so, allerdings nicht so eklatant wie im Falle von Android — laut Googles Statistiken vom Juni dieses Jahres läuft Android 4.4 KitKat nur auf etwas mehr als 13 Prozent aller weltweit aktivierten Geräten; Jelly Bean in seinen drei Versionen kommt aber auf immerhin fast 60 Prozent, lediglich 27 Prozent der Geräte laufen noch mit Ice Cream Sandwich, Gingerbread oder Froyo (in letzterem Fall sind das aber zu vernachlässigende 0,8 Prozent).

Ganz so viele aktivierte Geräte sind also gar nicht im Hintertreffen, wie es von Kritikern zuweilen dargestellt wird. Dennoch bleibt die Frage: Warum schafft es Apple, an über 80 Prozent aller iDevices bereits iOS 7 verteilt zu haben, während nur noch weniger als 15 Prozent mit iOS 6 laufen? Die Antwort liegt natürlich im Konzept der beiden Betriebssysteme. iOS kommt nur auf Apple-Geräten zum Einsatz — und deren Software wird von Apple bereitgestellt; und zwar zeitgleich für alle kompatiblen Modelle.

Android ist auf Smartphones, Tablets und zig anderen Geräte-Kategorien von verschiedensten Herstellern mit unterschiedlich angepasster Benutzeroberfläche installiert; der Rollout neuer Versionen obliegt den Hardware-Herstellern und teilweise sogar den Providern — kein Wunder also, dass die Verteilung der OS-Versionen nicht homogen ist: Zu oft verzögern Hersteller und Provider das Ausspielen, weil sie entweder langwierige Anpassungen an Optik und Funktionalität nach ihrem Gusto vornehmen möchten. Oder sie verweigern älteren Geräten eine neue Version aus Kosten-Nutzen-Gründen gar vollständig.

Google ist sich dieser Problematik bewusst und versucht schon länger mehr oder weniger erfolgreich dagegen vorzugehen: Das Druckmittel aus Mountain View sind die oben genannten Google Mobile Services (GMS), also all die Dienste, die Android — wenigstens in unserer Hemisphäre — gut und interessant machen. Allen voran natürlich der Play Store mit seinen Apps — was wäre ein Smartphone ohne Apps? —, aber auch exklusiven und guten Anwendungen wie Maps.

Mit der Drohung, die Lizenz zur Installation der GMS zu verweigern, verlangt Google von den Geräte-Herstellern, ihre Smartphones und Tablets aktuell zu halten und neue Geräte mit halbwegs frischen Android-Versionen auf den Markt zu bringen. So versucht Mountain View, der OS-Fragmentierung entgegenzuwirken. Aber warum eigentlich?

Jelly Bean oder KitKat — Hauptsache Android. Oder etwa nicht?

Was ist eigentlich so schlimm an der Fragmentierung? Macht sie Android wirklich so viel schlecht er für den Nutzer als iOS? Jein ... für betroffene Nutzer gibt es ein paar offensichtliche Nachteile, mit einer älteren Version des OS unterwegs zu sein. Gleichzeitig hat Google aber bereits diverse Maßnahmen ergriffen, damit die Unterschiede zwischen einem betagten und einem frischen Android nicht ganz so dramatisch ausfallen, wie das unter iOS der Fall wäre.

Ganz klar, jede neue Version von Android bringt zahlreiche Features, Verbesserungen und auch sicherheitsrelevante Optimierungen — wer da noch mit einer alten Variante leben muss, weil er keine Update erhält, muss auf diese natürlich verzichten. Auf den ersten Blick dramatisch.

Aber: Google hat durch das kontinuierliche Loslösen seiner Dienste und Kern-Apps aus dem Betriebssystem und deren Verlagerung als individuelle Anwendungen in den Play Store einen wichtigen und effektiven Schritt getan, dem entgegenzuwirken. Über die  Google Play-Dienste beispielsweise kann Mountain View zahlreiche Updates auf sämtliche Geräte mit Android spielen, unabhängig von der installierten OS-Version. In der Vergangenheit wurden so bereits mehrfach erfolgreich Features, Sicherheits-Fixes und sogar Optimierungen der Laufzeit auf die Gesamtheit der aktivierten Android-Geräte gebracht.

Und während iOS-Nutzer erst mit einem Update des ganzen Betriebssystems in den Genuss neuer Features der Apple-eigenen Anwendungen kommen, aktualisierte und erweiterte Google seine Kern-Apps Gmail, Maps, Google+, YouTube, Chrome und all die anderen zuletzt beinahe im Wochen-Rhythmus — und zwar für sämtliche Android-Geräte. Natürlich erreichen dadurch niemals alle Neuerungen einer höheren Android-Version die Geräte, die nicht aktualisiert wurden. Aber auch das ist oftmals nicht so dramatisch, weil beispielsweise zahlreiche kosmetische Änderungen auf den betroffenen Geräten mit Hersteller-UI ohnehin nicht zur Geltung kommen würden.

"Das viel beschworene Problem der Fragmentierung unter Android stellt sich inzwischen weder quantitativ noch qualitativ so dramatisch dar, wie man zu oft hört und liest."

Hinzukommt, dass zahlreiche unbedarftere Nutzer, denen teilweise gar nicht bewusst ist, dass auf ihrem Gerät Android läuft, nicht nur keinen Wert auf Updates legen, sondern gar keine großen Veränderungen auf ihrem Smartphone wünschen: Ich habe von genug Nutzern gehört, dass es sie ärgert, wenn sie nach Monaten oder Jahren der Nutzung sich bei einer Aktualisierung umstellen müssen (oder auch nur andere Icons zu Gesicht bekommen!). Der Wunsch nach ständigen Updates ist auch ein Ruf, der mehrheitlich von Enthusiasten kommt — aber die sind nicht zwingend das Gros der Android-Nutzer.

Problematischer wiegt die Fragmentierung da schon für die Entwickler von Apps und Spielen: Denn die müssen sich dadurch nicht nur mit der Vielfalt der unter Android eingesetzten Hardware (zig mögliche Kombinationen aus Display-Auflösungen und Chipsätzen sind hier die größte Herausforderung) herumschlagen, sondern eben auch mit den verschiedenen OS-Versionen und den damit verbundenen unterschiedlichen unterstützten Funktionen und Möglichkeiten. Definitiv liegt darin (aber auch in der weniger guten Aussichten auf erfolgreiche Monetarisierung) das Zaudern oder gar die Ablehnung einiger Entwickler begründet, ihre unter iOS erfolgreichen Produkte auf für Android zu portieren. Und das gereicht dann natürlich sämtlichen Android-Nutzern irgendwo zum Nachteil.

Dennoch: Das viel beschworene Problem der Fragmentierung unter Android stellt sich inzwischen weder quantitativ noch qualitativ so dramatisch dar, wie man zu oft hört und liest — zumal Google Lob dafür gebührt, wie effektiv und gleichzeitig mit ruhiger Hand das Phänomen angegangen wurde und weiterhin wird. Zwischen iOS und Android bestehen diesbezüglich eben große konzeptionelle Unterschiede, die so aber in der Anlage auch gewollt waren. Ein Open Source-Betriebssystem, das beinahe jedem Hardware-Hersteller zur Installation bereitgestellt wird — und exakt darin liegt ja der Erfolg von Android begründet — kann und darf kein zentral steuerbares "Walled Garden"-OS sein.

20 Prozent aller Android-Geräte weltweit laufen mit Forks

Gravierender wirkt da wenigstens im Hinblick auf die weltweiten Marktanteile des Android OS schon das Phänomen der Forks: Von den eingangs erwähnten 85 Prozent sind satte 20 Prozent gar kein Google-Android respektive OHA (Open Handset Alliance)-Android, sondern Derivate, die zwar auf AOSP-Android basieren, aber keine GMS-Lizenzierung besitzen und teilweise vollkommen anders aussehen. Den Großteil davon machen neben den in unseren Sphären beliebten und verbreiteten Custom Roms und Amazons Kindle-Geräten die in Asien dominanten Geräte dortiger Hersteller wie zum Beispiel Xiaomi (MIUI) aus — aufgrund dort florierender alternativer App Stores, wiegt das Fehlen der Google Dienste nicht sonderlich schwer.

Ist das schlimm? Eigentlich nicht — Forks sind weder gut noch schlecht, sie sind eine Realität und ein logisches Produkt des Open Source-Charakters von Android. Allein für Google könnten sie zu einem Problem werden, wenn Ihr Anteil weiter steigt: Mal abgesehen vom offensichtlichen Stigma, dass der große Marktanteil von Android gar nicht komplett Googles Anteil ist, hat Mountain View keine Kontrolle über diese 20 Prozent und verzeichnet vor allem keine direkten Einnahmen über sie. Vor allem in den Emerging Markets Afrika, Indien oder Südamerika könnte das für das Unternehmen große Verluste bedeuten.

Auftritt Android One: Mit dem auf der I/O vorgestellten Projekt, das besonders günstige Smartphones mit subventionierten Verträgen an die neue Kundschaft bringen soll, möchte Google in diesen Regionen den Anbietern von günstiger Hardware mit Android-Forks entgegenwirken. Dadurch wird man bereits etablierte Hersteller wie Xiaomi kaum stoppen oder gar zurückdrängen können; aber Mountain View kann so eventuell verhindern, dass weitere Marktanteile im großen Stile flöten gehen. Zusätzlich, wenn auch eher in unserer Hemisphäre relevant, sind auch im Falle der Forks die bereits erwähnten Google Services ein Anreiz für Kunden zu Geräten mit OHA-Android zu greifen — sofern sie denn die Angebote Googles überhaupt nutzen möchten; in China ist das gewiss weniger der Fall, was zum Teil das immense Erstarken der "Forker" dort erklärt. In den anderen aufkommenden Märkten muss das nicht zwingend so sein und daran arbeitet Google auch mit prestigeträchtigen Projekten wie Loon.

Die beiden "F's" sind systemimmanent, nicht hausgemacht

Fragmentierung und Forks sind tief im Konzept von Android verwurzelt; dem OS diese Phänomene ständig anzukreiden, ist wie dem lebenspendenen Regen vorzuwerfen, dass er auch Dinge nass macht, die trocken bleiben sollten. Ja, es besteht die Gefahr, dass Google die Geister, die es einst rief, über den Kopf wachsen und das Unternehmen die Kontrolle über weite Teile der Android-Welt verliert. Aber wäre das für die Nutzer auf der Welt so dramatisch? Ganz im Gegenteil, die profitieren vom so florierenden Wettbewerb (auch gegen Google) mehr, als dass sie unter verzögerten oder ausbleibenden Updates leiden. Und auch Google kann diese Entwicklung gut verkraften.

Gleichzeitig verdient Google Anerkennung dafür, dass das Unternehmen das Phänomen sehr vorsichtig und dezent behandelt: Niemandem wird verboten zu forken, niemand wird wirklich dafür bestraft, dass nicht jedes neue Update ausgerollt wird — und ziemlich sicher ist, dass Google das Android OS aus Trotz in absehbarer Zeit nicht absperren oder exklusiv machen wird. Stattdessen wurden diverse effektive Maßnahmen ergriffen, um vor allem für die Kunden optimale Lösungen bereitzustellen, die Negativ-Effekte beider "F's" so gering wie möglich zu halten (natürlich mit dem Hintergedanken, weiterhin der wichtigste Anbieter der besten OS-Version zu bleiben) oder, wie im Falle von Android One, gar neue, attraktive Möglichkeiten kreiert, Geräte mit Android zu nutzen.

Und auch für die Statistik der Marktanteile bleibt es dabei: Android in all seinen Erscheinungsformen hält 85 Prozent des Marktes — nicht Google, aber das hat ja auch niemand behauptet.

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