„Pack den Scheiß ein“: Smartphones in der Konzertarena

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Mit High-Definition-Video und eingebautem Mikrofon bringen moderne Smartphones alles mit, um Konzerte für die Ewigkeit festzuhalten. Aber das Bild von unzähligen Mini-Displays über dem Publikum verstört zunehmend Künstler und Fans. Ein Stimmungsbericht.

Wo fing das an? Was ist passiert? Diese Fragen dürften in den kommenden Wochen wieder einige beschäftigen, wenn die Open-Air- und Festival-Saison in die heiße Phase geht. Wo früher Feuerzeuge ein Lichtermeer über den Köpfen der Besucher erzeugten, ragen heute Smartphones in den Himmel – und dass nicht nur für die Länge einer Ballade, sondern häufig über mehrere Songs hinweg. Auf Youtube finden sich mittlerweile komplette Konzerte, die aus der Masse heraus mit mobiler Technik aufgezeichnet worden sind. Das handliche Komplettpaket aus Ton- und Videorekorder mit Anschluss an das Datennetzwerk geht technisch Welten über das hinaus, was Bootleggern im vergangenen Jahrhundert mit Tonbandgeräten, DAT- und Minidisc-Rekordern möglich war.

Heute hat das Smartphone die Arenen voll im Griff. Ob MTV Awards, Depeche-Mode-Konzert oder Coachella-Festival – das Geschehen auf der Bühne spiegelt sich hundertfach in den hochgereckten Displays wieder. Das ist normal für jemanden, der heute 16 ist, aber irritierend für alle, die noch wissen, wie es sich anfühlt, mit Tickets ohne Strichcode auf Konzerte gegangen zu sein. Auch die Künstler sehen die Entwicklung mit gemischten Gefühlen. „Was soll der Quatsch mit den Handyfotos? Was sind das für Menschen, die mit iPads in Konzerte kommen und dann alles filmen?“, beklagte sich Elton John neulich im Interview mit dem Zeit Magazin. „Die schauen sich gar nicht mehr die Show an, sondern starren nur noch auf ihr iPad! Das ist doch krank.“

Der Generation Youtube geht es nicht nur um das Event. Aufnehmen, hochladen, teilen lautet der Dreiklang, aus dem Erlebnisse heute gemacht sind. Das Nachspiel findet in den sozialen Medien statt: Ich war dabei, du warst dabei, wir waren dabei. Wer das als Künstler verstanden hat, dem öffnen sich neue Möglichkeiten. Die Crowdsourcing-Plattform FanFootage beispielsweise sammelt Videoclips von Fans und kombiniert sie mit einer hochwertigen Audiospur. „Bei einem Konzert können die Leute zwar tolles Filmmaterial mit ihren Handys oder Kameras aufnehmen, aber der Sound ist ziemlich übel“, erklärt Eoin O’Driscoll, Entwickler bei dem irischen Start-up. „Jetzt können die Fans ihren Lieblingssong von einem Konzert über unsere Webseite oder App hochladen, und unsere Techniker verbinden das Video mit dem perfekten Sound. Selbst wenn jemand nur 30 Sekunden eines Songs aufnimmt, kriegen wir das hin.“

Seit 2011 sammelt FanFootage Material und bietet umgekehrt Künstlern an, die Fans gezielt in ihre Inhalte einzubinden. Das Konzept geht für den Gründer und CEO Cathal Furey auf. Auf der Plattform finden sich neben Clips von irischen Bands wie Kodaline und Funeral Suits auch internationale Acts wie Hozier, Jamie Cullum, Marc Anthony und Bon Jovi. Letztere sind keine Unbekannten, wenn es darum geht, den Fans einen besonderen Moment zu verschaffen. Aus analogen Zeiten ist überliefert, dass Bandleader Jon Bon Jovi selten gespielte Songs mit den Worten „Bootleggers, roll your tapes now” angesagt habe.

Technologie weckt Begehrlichkeiten

Heute zücken die Fans Smartphone-Kameras mit High-Definition-Video und einer Fotoauflösung von mittlerweile bis zu 40 Megapixeln. Der digitale Fortschritt versetzt auch Medienprofis in Experimentierlaune. So übertrug der ARD-Sender EinsPlus im Juli 2012 ein Konzert der Band Gossip live mithilfe von vier Smartphone-Kameras. Die Signale wurden über Glasfaserkabel in die Bildregie des SWR in Baden-Baden geleitet, wo sie für das Fernsehsignal ausgewählt und zusammengestellt wurden. „Näher dran kann Fernsehen nicht sein“, sagte EinsPlus-Chef Alexander von Harling im Vorfeld der Ausstrahlung. „Mit diesem bisher einzigartigen TV-Experiment nehmen wir ganz bewusst die Perspektive unseres Publikums ein und loten zugleich die Möglichkeiten neuer Technologien aus. Auch das gehört zu unserem Selbstverständnis als Innovationsmotor: die Entwicklung einer glaubwürdigen jungen Fernsehästhetik, die in diesem Fall stark von der innovativen Produktionstechnik geprägt wird.“

Ein Vorreiter dieser Ästhetik war auch Paul McCartney. Der Ex-Beatle ließ 2009 sein Konzert „Good Evening New York City“ von 75 Flip Cams mitschneiden, die man unter den Besuchern verteilt hatte. Für die Performance des Songs „Helter Skelter“ wurde das Album mit einem Grammy ausgezeichnet. Das Video gewinnt nicht zuletzt durch den Einsatz der Fan-Kameras sichtlich an Dynamik.

Einen anderen Weg, wie Konzertveranstalter die Smartphones der Besucher für ihre Zwecke nutzen können, zeigt das Start-up Wham City Lights. Über eine App, die die Nutzer vor der Show auf ihr Handy laden, koppelt der Service die Displays mit der Beleuchtungsanlage und erzeugt beeindruckende Lichtchoreografien. Die Fernsteuerung erfolgt über Soundsignale, die für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar sind. Bisher wird das System vor allem bei TV-Shows wie „America’s got Talent“ oder der britischen Ausgabe von „The X Factor“ eingesetzt.

„Würden Sie das bitte lassen“

Typisch für den Wandel ist aber auch, dass nicht oder noch nicht jeder bereit ist, die Veränderung zu akzeptieren. Wie Elton John sehen auch andere Künstler diese Entwicklung kritisch und greifen mitunter zu drastischen Maßnahmen. So unterbrach im vergangenen Jahr der polnische Pianist Krystian Zimerman ein Klassikkonzert im Rahmen des Konzertfestivals Ruhr in Essen, als er bemerkte, dass ein Zuschauer das Konzert von der Empore mitfilmte. „Würden Sie das bitte lassen“, forderte der Künstler und verließ kurze Zeit später sichtlich verärgert sowie in seiner Konzentration nachhaltig gestört mitten im Stück die Bühne. Er habe schon viele Plattenprojekte und Kontakte verloren, weil man ihm sagte: „Entschuldigung, das ist schon auf Youtube“, erklärte er nach seiner Rückkehr auf die Bühne wenige Minuten später. „Die Vernichtung der Musik ist enorm durch Youtube“, so der Pianist.

Zimerman spricht kein neues Problem der Musikindustrie an. Seit es jedermann möglich ist, Aufnahmen von Musik zu erstellen – erst analog, dann im großen Stil digital – kämpfen Künstler und Musikverlage gegen Raubkopierer und die unberechtigte Verbreitung von Songs und Konzertmitschnitten. Dabei fokussieren die Label nicht nur auf die illegalen Tauschbörsen, sondern zunehmend auch auf Streaming-Portale. Während die Industrie und die Verwertungsgesellschaften von Diebstahl sprechen, fühlen sich die Nutzer zu unrecht kriminalisiert. Ein häufiges Argument: Die Verbreitung von Musik über die sozialen Netze habe auch einen Promotion-Effekt. Viele Nutzer würden erst durch Facebook und Youtube auf ihnen bislang unbekannte Künstler und Songs aufmerksam.

Youtube killt das Plattengeschäft

Eine aktuelle Studie der Fairfield University und der University of Colorado entkräftet diese Wahrnehmung und stützt das Vorgehen der Musikindustrie. Die Forscher sehen einen direkten Zusammenhang zwischen den sinkenden Album-Verkaufszahlen und etwa der Verbreitung von Musik auf Youtube. Kern ihrer Untersuchung waren die Verkaufszahlen des Plattenlabels Warner Music und dessen 2009 verhängter Youtube-Bann. Wegen eines Lizenzrechtsstreits hatte Warner damals die Musik all seiner unter Vertrag stehenden Künstler von dem Videoportal entfernt.

Die Forscher verglichen nun die Verkaufszahlen der Alben dieser Künstler mit anderen Künstlern aus den Billboard 200 Album-Charts, deren Videos weiterhin auf Youtube vertreten waren. Das Ergebnis ist beachtlich: Die Warner-Künstler verkauften in dem fraglichen Zeitraum bis zu 10.000 Alben pro Woche mehr als ihre Kollegen. Die Forscher schätzen, dass demnach Top-Alben, die auf Youtube präsent sind, Verkaufserlöse von etwa einer Million Dollar jährlich entgehen. Für Warner kommen die Forscher mit einer groben Schätzung auf insgesamt 40 Millionen Dollar pro Jahr. Das sind immerhin 1,6 Prozent des Jahresumsatzes, den Warner Music im Finanzjahr 2010 erzielt hat.

Ein mögliche Lösung, die von den Künstlern – in Deutschland vertreten durch die Verwertungsgesellschaft GEMA – angestrebt wird, ist eine Vergütung per Abruf, sobald von einem Nutzer urheberrechtlich relevantes Material auf der Google-Plattform erscheint. Google bietet dagegen eine prozentuale Beteiligung an den Werbeeinnahmen an. Solange eine Einigung in dem seit vier Jahren dauernden Streit aussteht, werden Nutzer am Upload von urheberrechtlich geschützten Material gehindert oder sie erhalten beim Abspielversuch Sperrtafeln mit dem Hinweis, dass das Werk in diesem Land nicht verfügbar sei. Für beide Varianten kursieren aber im Netz Anleitungen oder Hilfsmittel, wie man die Inhalte dennoch verfügbar machen kann.

Der Tod ästhetischer Erfahrungen

Der Spaß mit dem Smartphone und das gemeinsame Erleben in den sozialen Netzen fordern aber nicht nur die Geschäftsmodelle von Musikern und Bands heraus. Im Netz machen viele Konzertbesucher ihrem Unmut Luft, die sich von den Handys im Publikum gestört fühlen. Kamal Nicholas etwa schreibt auf AndroidPIT: „Das Schlimmste daran ist aber vielleicht, dass diese ganzen Bildschirme dafür sorgen, dass ich selbst anfange, darauf zu starren, weil ich mich die ganze Zeit in Gedanken mit der Frage beschäftige, warum man nicht einfach mal wieder ein Konzert so richtig ‚genießen’ kann. Sind wir mit der technologischen Entwicklung wirklich so weit gekommen, dass wir alles nur noch auf einem Bildschirm betrachten wollen?“

„Seid ihr alle schon so retardiert, dass ihr nicht mal bei einem Konzert Dinge einfach auf Euch wirken lassen könnt?“, fragt auch fudder-Autorin Sarah Menne in der Kolumne „Der gute Ton“. „Müsst ihr immer alles durch den Filter Eures Displays bestarren? (Homo Faber lässt grüßen!) Muss ALLES, IMMER (mit) geteilt sein?“ Sie rät, diesen Moment mitzunehmen, ihn aufzusaugen, das Leben davon beeinflussen und bereichern zu lassen. „Gönnt Euch selbst diese kurze Zeit der völligen Loslösung. Deswegen gehen wir doch da hin.“

Vielfach entlädt sich die Kritik an der mangelnden Qualität der Aufnahmen. Nicht ohne Grund verweist auch Menne auf die offiziellen Webseiten der Musiker mit Bild- und Videomaterial in der vom Künstler gewünschten Darstellung. Jan Wiele gibt im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu bedenken: „Wenn zum Beispiel ein Sänger wegen Krankheit oder aus anderen Gründen einmal nicht seinen besten Auftritt abliefert oder dieser durch einen Amateur-Mitschnitt entstellt wiedergegeben wird, sollte er dann nicht das Recht haben zu verhindern, dass davon noch in zwanzig Jahren Videos kursieren?“ Sein Fazit: „Wenn man sich also das nächste Mal auf Youtube ein Konzert-Handyfilmchen anschaut, sollte man vielleicht mitbedenken: Für die Produktion dieses Films starben viele ästhetische Erfahrungen.“

Das gesteuerte Medienkarussell

Auf der anderen Seite sind aber die Medien nicht abgeneigt, die privaten Smartphone-Filmchen von Konzerten zum Anlass für eine Story zu nehmen. Schlagzeilen wie „Justin Bieber übergibt sich zwei Mal vor seinen Fans“ (Berliner Morgenpost), „Lady Gaga kotzt auf die Bühne“ (Musikexpress) oder „Miley Cyrus bespuckt Fans bei Konzert“ (OE24.at) sind Garanten für ein paar Klickzahlen mehr. Der Konzertbesucher wird zum Leserreporter. Auf einmal ist zwischen Fan, Künstler, sozialen Netzwerken und klassischen Medien ein System entstanden, das jeder der Spieler geschickt für sich nutzen kann, um Aufmerksamkeit zu generieren.

Bieber, Cyrus und Lady Gaga sind die Prototypen einer Stargeneration, die weiß, was sie den Smartphones der Fans vor die Linse liefern muss. Bei einem Konzert im Madison Square Garden machte sich Bieber den Spaß und knipste mit einem Handy, das ihm ein Fan zuvor auf die Bühne geworfen hatte, in die Menge. Lady Gaga, deren grippebedingtes Erbrechen 2012 auf der Bühne mit Fan-Handys dokumentiert wurde, gab die passende Antwort in diesem März beim SXSW Music, Film + Interactive Festival. Vor laufenden Smartphone-Kameras durfte sich eine Performance-Künstlerin über den Star mit grüner Flüssigkeit übergeben. Und während der Tour von Miley Cyrus verging kaum ein Konzert ohne provokante Szenen für Fan-Handys und damit für die Netzwerke und die Klatschpresse.

Popkultur oder Nervtöter?

Aber sind kalkulierte Skandale es wert, die mobile Technik vor das persönliche Erleben zu stellen? Die Stimmung kippt, der Widerstand unter Künstlern und den Fans wächst. Als die Indie-Band The Stone Roses 2012 nach 16-jähriger Auszeit ihr Comeback-Konzert gab, machte Frontmann Ian Brown gleich zu Beginn die Ansage: „Wenn ihr eure Kameras herunternehmt, seid ihr vielleicht in der Lage, für den Augenblick zu leben.“ Das sitzt und ist nicht nur das Geschwätz eines alternden Rockstars, der das Ursprüngliche beschwören will. Im August 2013 verkündete ein Schild im Vorfeld eines Konzert der New Yorker Rockband Yeah Yeah Yeahs: „Bitte schau dir die Show nicht auf dem Bildschirm eines Smartphone oder einer Kamera an. Pack den Scheiß ein und tu der Person hinter dir und [den Band-Mitgliedern] Nick, Karen und Brian einen Gefallen.“

Und doch ist klar, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Das Smartphone wird in der Popkultur seinen Platz neben dem Feuerzeug finden. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Sei es als Leuchtmittel, wie es Wham City Lights vormacht, oder über Plattformen wie FanFootage, die Künstler und Fan enger zusammenführen. High-Definition-Video und verbesserte Mikrofone rechtfertigen auch nach wie vor Aufnahmen in alter Bootlegger-Tradition. Was derzeit möglich ist, zeigt der Nutzer afterdawncom am Beispiel des Muse-Songs „Knights of Cydonia“, in dem er die Konzertaufnahme eines Nokia Lumia 920 und eines iPhone 5 gegeneinander hält.

Aber selbst ohne den Anspruch an eine hohe Qualität, kann es sich lohnen, das Smartphone beim Konzert griffbereit zu haben. Ein tschechischer Youtube-Nutzer, der beim Konzert von Rihanna in Prag in der ersten Reihe stand, erlebte völlig überraschend seinen „Great Moment“. Im Vorbeigehen griff sich der Star das Handy und sang die ersten Takte des Songs „Umbrella“ exklusiv in seine Kamera.

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