Wie Smartphones in Entwicklungsländern Leben retten

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Peek Vision (© 2014 YouTube/Stewart Jordan )

Fitness-Tracker überwachen unseren Puls, iPads in Chirurgenhand visualisieren unsere inneren Organe. Doch nicht nur wir in den Industriestaaten profitieren von Mobile Health. In Entwicklungsländern hilft mobile Technik bei der Stärkung und dem Ausbau der Gesundheitsversorgung.

Dickson Mtanga lebt in Malawi, einem Binnenstaat im Südosten Afrikas. Er ist in der Gesundheitsfürsorge tätig. Pro Woche legt er 56 Kilometer zu Fuß zurück. Er läuft von Dorf zu Dorf, macht sich ein Bild darüber, wie es den Bewohnern geht, kümmert sich um kranke Menschen und berät schwangere Frauen. Im nächstgelegenen St. Gabriel's Krankenhaus arbeitet nur ein Arzt. Er und 500 Gesundheitsarbeiter wie Mtanga sind für die Versorgung von 250.000 Menschen zuständig. Diese Unterbesetzung ist kein Einzelfall. Schätzungen zufolge fehlen in allen Entwicklungsländern weltweit 2,4 Millionen Fachkräfte im Gesundheitswesen. Dieses Defizit lässt sich nicht von heute auf morgen ausgleichen. Verbesserungen sind dennoch möglich, wie die Geschichte von Mtanga und dem St. Gabriel's Krankenhaus zeigt.

Vernetzung

Josh Nesbit, Student der Universität Stanford, der im Jahr 2007 einen freiwilligen medizinischen Dienst am St. Gabriel’s leistet, begleitet den malawischen Gesundheitsarbeiter auf seinem Weg in die Gemeinden und hat dabei guten Funkempfang mit seinem Handy. Er erkennt das Potential, startet am St. Gabriel's Krankenhaus ein Pilotprojekt und gründet die Non-Profit-Organisation Medic Mobile. Das Ziel: mithilfe von Mobiltelefonen und der Software FrontlineSMS die Kommunikation zwischen Krankenhaus, Gesundheitsarbeitern und Patienten revolutionieren.

Heute informiert das Krankenhaus die Gesundheitsarbeiter schnell mit einer SMS darüber, wann, wie und in welcher Menge Medikamente verabreicht werden sollen. Patienten erhalten Erinnerungen, dass sie ihre Medikamente rechtzeitig einnehmen oder einen geplanten Arzttermin nicht verpassen. Umgekehrt können sie Notrufe an Betreuer oder das Krankenhaus senden. Die zusätzliche Plattform MedicSIM gibt den Gesundheitsarbeitern die Möglichkeit, strukturiert Patienteninformationen zu sammeln. Denn mit MedicSIM können Formulare auf die SIM-Karte jedes Handys geladen werden, das dem GSM-Standard entspricht. Die Vorteile der mobilen Technik: enorme Zeit- und Kostenersparnis bei gleichzeitig steigender Quantität und Qualität der Betreuung auch über große Distanzen im ländlichen Raum. Gemeinsam mit dem Elektrotechniker Aydogan Ozcan arbeitet Medic Mobile außerdem an einem Sensor für Mobiltelefone, mit dessen Hilfe sich Blutbilder erstellen und versenden lassen, sodass auch eine Ferndiagnose von beispielsweise Malaria möglich wird.

Mobile Gesundheitsfürsorge

Was Medic Mobile mit diesem Projekt geschaffen hat, nennt sich Mobile Health, kurz mHealth. Geprägt hat den Begriff Robert Istepanian, Professor für Elektrotechnik am Imperial College in London. Er beschreibt die von Mobilgeräten – Handys, Smartphones, Tablet und Personal Digital Assistants – gestützte Medizin und Gesundheitsversorgung. Sie spielt vor allem in Entwicklungsländern eine Schlüsselrolle bei der Krankheitsbekämpfung. Dort mangelt es an allem: Infrastruktur, Krankenhäusern, Krankenhausbetten, medizinischem Personal und Equipment. Eine effiziente Koordination der Gesundheitsfürsorge ist deshalb umso wichtiger, vor allem auch um Epidemien zu verhindern oder zumindest frühzeitig zu erkennen. Aktuell breitet sich in Westafrika rasant das Ebola-Virus aus. Bereits 1.000 Menschen sind an der Erkrankung gestorben und die World Health Organization (WHO) stuft die Ebola-Epidemie als internationalen Gesundheitsnotfall ein.

Warum gerade Handys dazu beitragen, liegt auf der Hand. Sie sind leicht zu transportieren, kostengünstig und in Entwicklungsländern weit verbreitet, Tendenz steigend. Sidhant Jena, Absolvent der Harvard Business School und Gründer des mHealth-Unternehmens Jana Care, fasst dies im Interview mit der Economic Times so zusammen: "Heute leben 6 Milliarden Menschen auf der Welt. Es gibt jedoch nur 11 Millionen Krankenhausbetten und 305 Millionen Computer, dafür aber 3 Milliarden Handys. Es leuchtet somit unmittelbar ein, die mobile Technik zur Gesundheitsversorgung der Menschen zu nutzen." Handys ermöglichen die notwendige Koordination. Allein die Grundfunktionen zur Vernetzung – Kurzmitteilungen zu schreiben sowie zu telefonieren – sind wirkungsvoll, etwa um HIV-Medikamente in einer Klinik anzufordern oder einen Arzt zu rufen.

Auf Grundlage von mHealth sind in den vergangenen Jahren weltweit verschiedene Projekte in Entwicklungsländern entstanden und die Zahl wächst stetig. Ein Bericht von Vital Wave Consulting für die United Nations Foundation und die Vodafone Foundation aus dem Jahr 2009 verzeichnet 21 Projekte in Afrika, 10 in Südamerika, elf in Indien und sieben weitere in anderen asiatischen Ländern. Ein Report des Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmens Pricewaterhouse Coopers (PWC) aus dem Jahr 2012 nennt bereits 106 Projekte in Afrika, 80 in Asien und 23 in Sudamerika. Die mobile Technik wird im Rahmen dieser Projekte für verschieden Zwecke genutzt: Aufklärung der Bevölkerung über Krankheiten, Betreuung von Patienten, Diagnose und Behandlung von Krankheiten, Schulung des Pflegepersonals sowie Sammlung von gesundheitsrelevanten Daten.

Masiluleke in Südafrika und das Projekt Text to Change in Uganda nutzen beispielsweise SMS, um die Menschen über Aids zu informieren, zum HIV-Test oder zur Behandlung der Krankheit zu motivieren. Mit Erfolg: Das als Handy-Quiz konzipierte Text to Change bewirkte, dass sich allein in einem Zeitraum von sechs Wochen 40 Prozent mehr Menschen einem Test unterzogen haben. Das Projekt Masiluleke nutzte den kostenlosen Service "please call me", um im Jahr 2008 insgesamt 365 Millionen – eine Million pro Tag – Aufrufe zum HIV-Test an die Südafrikanische Bevölkerung zu senden. Nach Schätzungen sind ein Viertel der Menschen in Südafrika mit dem HI-Virus infiziert, aber nur drei Prozent sind sich darüber im Klaren. Kurznachrichten über das Handy erzielen gerade in Ländern, in denen Krankheiten, wie Aids tabuisiert werden, größeren und vor allem messbaren Erfolg im Vergleich zu Fernseh- oder Radiokampagnen.

Umgekehrt haben die Menschen selbst die Möglichkeit, sich über Handy gesundheitsrelevante Informationen zu beschaffen. Kenianer können zum Beispiel beim Kauf eines Medikaments einen Code auf der Verpackung mit einer SMS an eine Service-Nummer senden. Sie erhalten dann umgehend eine Fachauskunft darüber, ob es sich um ein echtes oder ein gefälschtes Medikament handelt. Entwickelt haben das kostenlose Informationsangebot die Organisation mPedigree und Orange Healthcare.

Diagnosewerkzeug im Miniaturformat

Im Vergleich zu Handys bieten Smartphones noch weitaus größere Möglichkeiten für die Gesundheitsversorgung in Entwicklungsländern, vor allem bei der Diagnose von Krankheiten. Mittlerweile arbeitet eine Vielzahl von Forschern an medizinischem Zubehör, das als mobile Miniaturversionen stationäre, teure Krankenhaustechnik ersetzt und so auch Untersuchungen bei Hausbesuchen der Patienten in ländlichen Regionen ermöglicht.

"Smartphones werden immer besser, und der glückliche Zufall ist, dass ihre optischen Elemente sogar kleiner sind, als eine Pupille", erklärt der Augenarzt Iain Livingstone. Livingstone arbeitet für die britische Firma Peek Vision, die einen Smartphone-Adapter inklusive Software entwickelt hat, mit dessen Hilfe sich Augenkrankheiten diagnostizieren lassen, die zur Erblindung führen können. Eingesetzt wird das Gerät in Schottland sowie in Kenia, wo die Augen von insgesamt 5.000 Menschen in ländlichen Regionen untersucht werden. Der Vorteil: Auch kaum ausgebildete Gesundheitsarbeiter können mit dem Gerät umgehen. Denn das Smartphone fokussiert automatisch und macht Aufnahmen vom Auge, die dann zur Auswertung an Spezialisten versendet werden. Geo-Tagging erlaubt es, sich ein Bild über die Verbreitung von Augenkrankheiten, wie den grauen Star, zu machen und die medizinische Versorgung der betroffenen Patienten zu organisieren.

Ähnlich funktioniert eyeMITRA. Der von einer Forschergruppe um Ramesh Raskaram am US-amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) konzipierte Smartphone-Aufsatz soll helfen, diabetische Retinopathie frühzeitig zu erkennen. Mit einem Stückpreis von 20 bis 50 Dollar zielt das Projekt auf den Einsatz in Entwicklungsländern ab.

Auch Daniel Fletcher, Professor für Biotechnologie an der kalifornischen Universität Berkeley, erkannte, dass sich eine Smartphone-Kamera für mehr eignet als Schnappschüsse und Videoaufnahmen. In einem Projekt mit Studierenden erforschte er Möglichkeiten, die Kamera zum Mikroskopieren zu nutzen. Das Resultat: CellScope Oto, ein Otoskop, das vergrößerte Aufnahmen des Innenohrs anfertigt. Infektionen lassen sich so schnell ermitteln. Bislang ist das Gerät allerdings nur für das iPhone optimiert. Der Einsatz in Entwicklungsländern ist damit erschwert, denn Apple Devices, wie sie in Deutschland und anderen Industriestaaten bereits Schulkinder besitzen, sind in Afrika, Südamerika und weiten Teilen Asiens bislang noch wenig verbreitet. Fletcher arbeitet nun bereits an weiteren Smartphone-Tools zur Untersuchung von Hautkrankheiten und zur Diagnose von Malaria.

Manu Prakash hingegen engagiert sich im Kampf gegen Mundhöhlenkrebs und Zahnerkrankungen. Der aus Indien stammende Forscher kennt die Risiken mangelnder Mundhygiene. Er und seine Klassenkameraden haben selbst oft Tabak gekaut, eine Gewohnheit, die ohne Mundpflege zu starken Schäden führen kann. Als er verschiedene Kliniken in Indien besuchte, wäre er schockiert gewesen, Patienten zu treffen, die erst zu einem so späten Zeitpunkt zur Behandlung kämen, dass es kaum noch Erfolgsaussichten bei einer Operation gab, sagt der Forscher. Er suchte nach einer Lösung für die Probleme in seinem Heimatland. Im Prakash Lab der Universität Stanford entwickelte Prakash einen für Smartphone-Kameras konzipierten Aufsatz, mit dem auch kaum ausgebildete Menschen mobil und schnell Bilder von Mund, Rachen und Zähnen aufnehmen und diese dann zur Begutachtung an Mediziner weiterleiten können. OScan wird in Indien, Botswana und den USA getestet. Bedauerlich findet der Forscher, dass die Technik von Smartphones geschlossen konzipiert ist und kaum Schnittstellen für andere Anwendungsbereiche bietet.

Selbst ein Kolposkop lässt sich soweit verkleinern, dass es auf ein Smartphone passt. Das beweist ein Israelisches Start-up mit MobileOCT. Das Gerät ermöglicht eine mobile und günstige gynäkologische Untersuchung mit dem Ziel der Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs. Ein stationäres Gerät kostet bis zu 10.000 Euro. Das MobileOCT soll bereits für 300 Euro erhältlich sein und könnte laut Bruce Kahn von der Scripps Clinic in San Diego, einem Partner von MobileOCT, zukünftig sogar Pap-Tests, Zellabstriche vom Muttermund, ersetzen.

An der Universität Cambridge arbeiten Forscher zudem an einer Diagnose-App, die wie ein Spektralfotometer funktioniert. Colorimetrix liest anhand eines mathematischen Algorithmus Farbtestergebnisse aus, etwa auf einem Urinstreifen. Patienten müssten zur Untersuchung von Diabetes, Nierenerkrankungen oder Harnwegsinfektionen nicht mehr zwingend eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus aufsuchen. Gesundheitsarbeiter könnten die Teststreifen und das Smartphone zu ihnen bringen. Ali Yetisen, Leiter der Forschungsgruppe hat noch weitere Ziele: "In der App steckt das Potential, Entwicklungsländer im Kampf gegen HIV, Tuberkulose oder Malaria zu unterstützen."

Nicht nur diese Krankheiten stellen ein großes Problem in Entwicklungsländern dar. Jährlich sterben weltweit 76.000 von etwa 10 Millionen schwangere Frauen, die an Schwangerschaftstoxikose oder damit verbundenen Komplikationen erkranken. Die Zahl an Babys, die daran sterben, wird auf mehr als 500.000 geschätzt. Die Erkrankung der Plazenta bewirkt bei der Mutter Bluthochdruck. "Mehr als 99 Prozent dieser Fälle ereignen sich in Entwicklungsländern – das stellt die Frage nach sozialer Gerechtigkeit", sagt Peter von Dadelszen von der University of British Columbia in Vancouver, Kanada. Mit seinen Kollegen Mark Ansermino und Guy Dumont hat der Forscher einen Sensor und eine App konzipiert, die jedes Smartphone in ein Blutsauerstoffmessgerät verwandeln. In Entwicklungsländern stünden diese Geräte nur in wenigen Krankenhäusern zur Verfügung. Nach Aussage des Unternehmens Lions Gate Technologies erkenne das Kenek Edge Pulse Oximeter in 80 Prozent der Fällen Gefährdungen bei schwangeren Frauen. Das Gerät besteht aus einem Fingeraufsatz, dessen Kabel über den Audioeingang mit einem Smartphone oder Tablet verbunden wird.

mHealth in Industrienationen?

Tom Walker, CEO von Lions Gate Technologies, sieht sowohl global, also auch in Europa und den USA, einen großen Markt für mHealth-Technik: "Das Smartphone kann in Entwicklungsländern als Diagnose-Tool, in Industrieländern zur Eigendiagnose genutzt werden." Und es wird bereits in Industrienationen Geld in mHealth investiert, schreibt newelectronics. Ziel sei es, chronisch erkrankten Menschen zu helfen und etwa Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte dann zu reduzieren, wenn Telemedizin oder mHealth ebenfalls wirksam sind. Laut PwC würden OECD-Länder mit der Implementierung von Mobile-Health-Services sogar 400 Milliarden Dollar sparen.

In Ländern mit guter Gesundheitsversorgung ist die private Anschaffung von Smartphone-kompatiblen Gesundheitsprodukten jedoch bislang eher eine persönliche Entscheidung und eine Frage des Komforts. Für das iPhone beispielsweise sind Wellness-Gadgets und Fitness-Tracker mehr gefragt als Blutdruckmessgerät und Infrarot-Thermometer.

Forbes hat kürzlich resümiert, dass von den 36 Millionen US-Bürgern nur ein geringer Anteil auf mHealth setzt und auch die Ärzte keinen Bedarf sehen. Laut einer Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2012 nutzen lediglich 19 Prozent der US-Amerikaner, die ein Smartphone besitzen (85 Prozent von der Gesamtbevölkerung), eine App, um ihre Gesundheit zu überwachen. Ähnlich sieht es in Deutschland aus. Eine Umfrage der Krankenversicherung IKK ergab, dass 22 Prozent der Deutschen Gesundheits-Apps nutzen. Darunter fallen Anwendungen zur Messung von Puls oder Blutzuckerwerten, zur Ferndiagnose von Hauterkrankungen durch einen Arzt, ein Nierenfunktionsrechner, vor allem aber Apps zum Nachschlagen von Symptomen oder Maßnahmen bei erster Hilfe.

Das Angebot ist groß, aber auch die Risiken. Experten sprechen sich bereits für eine stärkere Regulierung von Gesundheits-Apps aus, weil nur sehr wenige den medizinischen Standards entsprechen. So kritisieren Hautärzte beispielsweise, dass auf Grundlage eines Algorithmus arbeitende Apps zur Erkennung von Hautkrebs keine zuverlässige Diagnose stellen. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach dem Datenschutz. – Unterschiedlicher können die Probleme auf dieser Welt nicht sein.

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