"Mass Effect: Andromeda" im ausführlichen Test: Lohnt die Reise?

Mass Effect Andromeda
Mass Effect Andromeda (© 2017 Electronic Arts/Bioware )
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Das Hands-On Ende Februar hat uns mit dem Gefühl nach Hause geschickt, dass "Mass Effect: Andromeda" mehr sein könnte als aufgewärmte Nostalgie. Doch trotz der kurzen Spielzeit von zwei Stunden hatten sich bereits erste Probleme der neuen Space Opera abgezeichnet. Unser Test hat ergeben: BioWare hätte uns länger warten lassen sollen.

Ich hab seinerzeit viele Stunden mit Commander Shepard in der "Mass Effect"-Trilogie verbracht: Etliche Planeten habe ich bereist und gescannt, unendlich viele Dialoge geführt und die Milchstraße von der Bedrohung durch die Maschinenwesen Reaper befreit. Das Ende wurde kontrovers diskutiert, aber es war: ein Ende.

Fünf Jahre nach den interstellaren Abenteuern mit Shepard rollt BioWare wieder die Sternenkarte aus. Doch ist die Menschheit bereit für neue Geschichten im Universum der Space Opera? Ist es 2017 tatsächlich an der Zeit für einen neuen Teil des Mass-Effect-Universums? Und wie zeitgemäß kann dieser noch sein?

Mass Effect Andromeda
Jaal gehört zu den Angara, der neuen Rasse in "Mass Effect: Andromeda", und kann als Crew-Mitglieder angeworben werden. (© 2017 Electronic Arts/Bioware )

Freiheit mit Einschränkungen

30 Minuten habe ich mit dem Charakter-Editor von "Mass Effect: Andromeda" verbracht. Und ich weiß nicht, ob das mehr über mich oder das Spiel aussagt. Letzten Endes haben das Spiel und ich uns auf einen Kompromiss geeinigt, der meiner Vorstellung von Sara Ryder am nächsten kommt.

Zu Beginn des Abenteuers habt Ihr die Wahl, ob Ihr lieber mit Sara oder Scott Ryder aufbrechen wollt. Spielerische Konsequenzen hat Eure Wahl keine, lediglich die Dialoge und vereinzelte Reaktionen fallen anders aus. Ganz so frei, wie Ihr es eventuell gewohnt seid, ist die Gesichtsbaustelle in "Mass Effect: Andromeda" nicht. Zunächst entscheidet Ihr Euch für eines von neun (pro Geschlecht) vorgefertigten Gesichtern. Anschließend habt Ihr die Möglichkeit, dieses nach Euren Wünschen zu verändern: zum Beispiel den Augenabstand, die Höhe der Wangenknochen, das Volumen der Lippen. Mehr als die Details im Gesicht und die Frisur lässt Euch BioWare nicht verändern. Die Einschränkungen bei der Gestaltung haben aber einen Grund: Weil Sara und Scott das gleiche Genmaterial wie ihr Vater Alec haben, sehen sich die drei Figuren im Spiel ähnlich. Je nachdem, wie Ihr also Euren Ryder gestaltet, verändern sich auch die anderen beiden mit.

Der Anfang einer lange Reise

600 Jahre sind eine lange Zeit. Wer nach über einem halben Jahrtausend das erste Mal die Augen aufschlägt, für den ist nichts mehr, wie es vorher einmal war. Sara und Scott Ryder können ein Lied davon singen. Das Geschwisterpaar tritt mit seinem Vater, Alec Ryder, die einbahnige Reise aus der Milchstraße Richtung Andromeda-Galaxie an. Dort wollen sie gemeinsam mit knapp 20.000 anderen Menschen neue Planeten erschließen und kolonisieren. Die Andromeda Initiative, so nennt sich das Unterfangen, schickte vor 600 Jahren fünf Raumschiffe los, um die Galaxie zu erreichen. Doch nur zwei von ihnen scheinen das Ziel erreicht zu haben: die Arche Hyperion, auf der die menschliche Rasse unterwegs ist, und die Nexus, die zentrale Raumstation, von der aus die Kolonisierung gesteuert werden soll. Von den übrigen drei Archen fehlt jede Spur.

Als Pathfinder für die Menschen soll Alec Ryder Planeten auskundschaften und den Erstkontakt zu fremden Völkern herstellen. In seiner Funktion als Pionier und Diplomat lastet große Verantwortung auf ihm. Es vergeht kaum eine Stunde im Spiel, da segnet Alec heldenhaft das Zeitliche und hinterlässt Sara einen ganzen Berg an Verantwortung und neuen Aufgaben. Mal ganz abgesehen von dem fehlenden Respekt der Crew gegenüber Sara, den sie sich als ungewollt neue Pathfinderin erstmal verdienen muss.

Der erste Planet, Eos, den wir als frische Pathfindern ansteuern, birgt sogleich zwei Überraschungen: Erstens sind andere Außerirdische, die Kett, schon vor uns gelandet – und würden gerne unter sich bleiben. Und zweitens scheint auch in der Andromeda-Galaxie eine Art Maschinenrasse, die Remnant, zu existieren, deren ausgeklügelte Technologie alle haben wollen. Da das mit der Völkerverständigung so eine Sache ist, lassen wir statt diplomatischer Rhetorik kurzerhand unsere Waffen die Verhandlungen führen. Dabei wollten wir doch bloß in Ruhe den Planeten besiedeln ...

Mass Effect Andromeda
Macht auch nach dem Ableben eine gute Figur: Cora hält sich mit Verrenkungen fit. Obwohl sie längst tot ist. (© 2017 Electronic Arts/Bioware )

Glasaugenspiel

"Mass Effect: Andromeda" hat schon vor dem Start jede Menge Häme einstecken müssen. Grund dafür sind die kruden Animationen und die fehlende Mimik sämtlicher Figuren. Mit den Memes und Gifs, die es inzwischen dazu gibt, ließe sich eine ganze Bibliothek füllen. Auch unsere Befürchtungen aus dem Hands-On haben sich bestätigt: BioWare hat es versäumt, die technischen Mängel rechtzeitig zum Start auszumerzen. Deshalb wirkt ein Spaziergang auf der Hyperion wie ein Besuch im Wachsfigurenkabinett: unterhaltsam, aber leblos. Die Zementgesichter unserer Gesprächsteilnehmer zeigen keine Regung und lassen keinerlei Rückschlüsse auf ihre Emotionen zu. Selbst im Moment tiefster Trauer verharren die Gesicht im Modus der Gleichgültigkeit – als wäre das Gesicht noch im Kryo-Schlaf.

Nun sind Dialoge aber zentraler Bestandteil von Rollenspielen. Insofern ist es schmerzhaft zu sehen, dass ausgerechnet diese Zutat durch technische Defizite ein Gschmäckle hat. Bei NPCs, die keine größere Rolle spielen, könnte ich über solche Makel hinwegsehen. Dass aber selbst den Hauptfiguren jegliches Anzeichen von Leben und Neugier fehlt, lässt sich nicht einfach ignorieren. Sara bzw. Scott, ihre Crew und sämtliche Mitreisende der Andromeda Initiative sind gleichermaßen neu in der Galaxie wie der Spieler. Jede Entdeckung erleben wir mit ihnen gemeinsam. Trotzdem brennt da nichts in den Augen von Sara – der Glanz, den man erwarten würde von jemandem, der neue Welten erkundet und fremden Lebewesen begegnet, der findet sich nicht. Stattdessen tut sich nichts im Gesicht. Nichts! Bis auf den Mund, okay.

Durch die fehlende Mimik wirken Konversationen mit NPCs seltsam entrückt. Die Figuren stehen sich zwar gegenüber, nehmen aber keinerlei Bezug zueinander oder interagieren miteinander. Da ist keine Dynamik, keine Dramaturgie in den Gesprächen. Nicht mal die Arme werden groß zur Unterstützung der Worte eingesetzt. Durch den immer gleichen statischen Ablauf bleiben die Gespräche während des gesamten Spiels farblos und abwechslungsarm. Manche Dialoge dauern mehrere Minuten, ohne das visuell irgendetwas passiert. Die Figuren stehen steif voreinander wie Kleiderpuppen. Und ja, das führt zu Brüchen in der Immersion, vor allem während der ersten Spielstunden.
Wenigstens kommt in den Zwischensequenzen etwas mehr Leben ins Spiel, wenn
die Figuren “auftauen” und anfangen sich während der Gespräche sogar zu bewegen.

Mass Effect Andromeda
Die Planeten laden dank stimmungsvoller Beleuchtung zum Erkunden ein. (© 2017 Electronic Arts/Bioware )

Zu dritt alleine

"Mass Effect: Andromeda" ist im Kern ein Rollenspiel. Es gibt Talentpunkte, die auf verschiedene Fähigkeiten verteilt werden können. Es gibt unterschiedliche Antwortmöglichkeiten in den Gesprächen. Es gibt Quests, also Aufgaben, die je nach Gewichtung Belohnungen in Form von neuer Ausrüstungen und Erfahrungspunkten ausschütten. Und es gibt: Mitstreiter. Ein Captain ist nichts ohne seine Crew. Das gilt auch für Sara. Aus insgesamt sechs Mitstreitern wählen wir uns vor Missionsbeginn jeweils zwei aus. Nach welchen Kriterien Ihr das tut, bleibt Euch überlassen. Im Test hat es sich aber bewährt, des Öfteren das Team durchzuwechseln, weil es ansonsten zu Missmut unter euren KI-Kumpanen kommen kann. Außerdem verpasst Ihr so die Chance, die teils sehr unterhaltsamen Dialoge zwischen den Figuren zu erleben.

Darüber hinaus ist es sinnvoll, die Wahl anhand Eurer Fähigkeiten zu treffen. Spielt Ihr lieber als Nahkämpfer, bietet es sich an, Kameraden mitzunehmen, die Euch aus der Entfernung Rückendeckung geben. Allzu sehr solltet Ihr Euch darauf aber nicht verlassen. Wirklich clever verhalten sich Eure KI-Kollegen im Kampf nämlich nicht. Es sei denn, Ihr schickt sie permanent manuell in Deckung. Ansonsten seid Ihr mehr damit beschäftigt sie wieder auf die Beine zu stellen, als auf die Gegner zu feuern. Zum Glück leisten sich die Kett im Kampf ebenfalls gelegentliche KI-Aussetzer und bleiben zum Beispiel mitten in der Schusslinie stehen.

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Schwerkraft? Nein, danke! Dieser Kett hat sich als Scharfschütze eine besonders geeignete Position gesucht. (© 2017 Electronic Arts/Bioware )

Verpasste Chance

"Mass Effect: Andromeda" bietet gewohnte und großteils auch gewohnt gute Sci-Fi-Kost. Allerdings ist mir BioWare bei der Fortentwicklung des Universums nicht weit genug gegangen bzw. nicht konsequent genug. So fantastisch die Welten und Wesen in "Mass Effect: Andromeda" auf den ersten Blick anmuten, so wenig originell sind sie hinter der Fassade. Ihrer Natur nach originär und fremd sehen die Kett, die Asari, die Angara und die anderen Alienrassen erstaunlich vertraut aus: humanoide Wesen mit nahezu ähnlicher Physis. Alle Wesen haben zwei Beine, zwei Arme, zwei Augen. Die blauhäutige Asari Peebee hat sogar einen Bauchnabel. Okay, das sind vielleicht Details. Aber warum hat sich BioWare bei der Erschaffung der Rassen nicht mehr Kreativität eingeräumt? In einer Nebenmission etwa bittet mich eine Turianerin, ihren Mann aus dem Gefängnis zu befreien, weil er des Mordes bezichtigt wird. An sich kein Problem, viel Laufarbeit eben. Was mich stattdessen stutzig macht: Anscheinend ist es egal, welcher Spezies man angehört, das Konzept einer Mann-Frau-Verbindung scheint es auf allen Planeten im Sonnensystem zu geben. Schade, wirklich Spannungen oder kulturelle Konflikte aufgrund grundlegender Verständigungsprobleme können sich so natürlich nicht entwickeln.

Ebenfalls irritierend und schlecht für die Glaubwürdigkeit ist die mangelnde Konhärenz, mit der BioWare das Universum geschaffen hat. Die Angara tauchen neben den Kett erstmals als neue Rasse in "Mass Effect: Andromeda" auf. Weil sie nicht von der Milchstraße emigriert sind, kennen sie viele Begriffe und Gepflogenheiten nicht, zum Beispiel das Zahlungsmittel "Credits", mit dem im Spiel gehandelt wird. Trotzdem kann ich problemlos damit bei einem Händler auf dem Planeten der Angara mit Credits bezahlen. Warum diese Inkohärenz innerhalb der Spiellogik auf so kleinem Raum, BioWare?

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Blendend schön? Nicht ganz. Aber der Eindruck täuscht. In seiner Gesamtheit ist "Mass Effect: Andromeda" ein ansehnliches Spiel geworden. (© 2017 Electronic Arts/Bioware )

Aber!

Die Kritiken an BioWares neuem Weltraum-Rollenspiel sind weitgehend berechtigt, greifen mir aber zu kurz, um das Spiel als Ganzes zu bewerten. In Anbetracht der schieren Größe, die in "Mass Effect: Andromeda" steckt, sind die meisten Probleme nur oberflächlicher Natur. Okay, die Texte in den Dialogen sind teilweise derart dünn, dass man sie nur noch schnell skippen möchte.

Trotzdem hat auch der vierte Teil von "Mass Effect" den typischen Charme der Reihe übernommen. Die Erkundung nicht nur der fremden Galaxie, sondern auch der Charaktere und der eigenen Rolle als Pathfinder machen "Mass Effect: Andromeda" trotz seiner Fehler zu einem spielenswerten und erlebnisreichen Abenteuer. Ich mochte Sara dank ihrer flappsigen Art und ihrem trockenem Humor von Anfang an und fühlte mich wie sie fremd in der neuen Umgebung und quasi hingestoßen in die Aufgabe als Pathfinder. Mir gefällt der Gedanke, genauso fremd in der Galaxie zu sein wie die meisten Spielfiguren, weil es die Identifikation mit ihnen fördert. Zumal zumindest die engeren Crew-Mitglieder spannende Hintergrundgeschichten haben, die sich erst nach und nach entfalten – und auch erst dann, wenn man ihr Vertrauen gewonnen hat.

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Stern(st/k)unde in "Mass Effect: Andromeda": Optisch wie erzählerisch schwankt die Qualität, hinterlässt insgesamt aber einen positiven Gesamteindruck. (© 2017 Electronic Arts/Bioware )

Überhaupt entwickelt sich "Mass Effect: Andromeda" erst mit der Zeit. Manche Missionen ziehen sich gefühlt ewig hin, warten dafür aber mit interessanten Entwicklungen auf. Andere wiederum liegen buchstäblich im Schnee des Eisplaneten Voeld begraben. Nur durch Zufall bin ich über sie gestolpert. Überhaupt lohnt es sich, in "Mass Effect: Andromeda" auf Entdeckungsreise zu gehen (ist das nicht im Kern das Ziel der Andromeda Initative gewesen?). Denn obwohl das Spiel an vielen Stellen nicht herausragend schön ist, ist es zumeist aber stimmig und stimmungsvoll.

Auch das überarbeitete Kampfsystem gefällt mir sehr gut. Das dynamische Deckungssystem steht der Action gut zu Gesicht und wird durch den Einsatz des Jetpacks passend unterstützt. Ständig schieße ich im Kampf mit Sara per Düsenschub zur Seite oder auf den Gegner zu oder setze meine Biotik ein, um die Kett in Abgründe hinabzuwerfen. Das könnte ich stundenlang machen.

Fazit

Wäre "Mass Effect: Andromeda" erst im Herbst erschienen, wäre aus dem Spiel ein gutes bis sehr gutes geworden. So ist die Space Opera eines, das seine technische Unzulänglichkeiten nicht verbergen kann und sich deswegen der Häme durch die Gamer-Community preisgeben muss. Zurecht. Die fehlende Mimik und die teils lächerlichen Animationen gehören 2017 einfach nicht mehr in einen AAA-Titel mit langer Entwicklungszeit und großem Budget. Trotzdem werden Fans der Reihe auch mit Teil vier ihre Freude haben und problemlos etliche Stunden Spielspaß aus dem neuen Universum ziehen. Alle andere übrigens auch.

Wie findet ihr das? Stimmt ab!
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